Grüße aus West Bend

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Das alte Rathaus von West Bend, heute Museum

West Bend, so viel wie "Westkurve", ist der Name der kleinen Stadt, in der ich wohne. Sie liegt etwas südlich von dem Dorf Kewaskum (4.000 Einwohner) und ist etwa so groß wie Naumburg (30.000+ Einwohner). (Natürlich nicht so schön wie Naumburg...) 

1953 gab ein Farmer hier sein Land am Big Cedar Lake ("großer Zedernsee") der United Church of Christ, um auf dem Gelände ein Haus für Seniorenbetreuung zu errichten. Die Idee hatte der örtliche UCC- Pfarrer, da er seine Mutter betreute, und überlegte, ob man so etwas wie eine Senioren-WG errichten könnte. Zunächst entstand nur ein kleines Haus mit 13 Betten. Inzwischen ist daraus eine große soziale Einrichtung erwachsen (Cedar Community), mit Häusern für "unabhängiges Wohnen" in eigenen Häusern oder WGs, sowie für betreutes Wohnen für Menschen mit Gedächtnisproblemen und -erkrankungen (Alzheimer, Demenz etc.), in denen hunderte von Menschen leben. Da ich in Arnsdorf 2 1/2 Jahre neben (bzw. unter) dem Kindergarten wohnte, erscheint es nur logisch, nun inmitten der älteren Mitbürger von West Bend und Umgebung zu leben.

Letzte Woche traf ich mich mit Tim, einer der Chaplains in Cedar. In Amerika ist ein Chaplain ("Kaplan") ein Geistlicher, der in einer sozialen Einrichtung arbeitet, also Krankenhaus, Seniorenwohnheim etc. Tims Großvater war ein Cherokee-Indianer (man sagt hier "Native Americans" = Ur-Amerikaner, oder "first nations" = erste Nationen) und erzählte mir einiges darüber, wie die Indianerstämme systematisch verfolgt, verdrängt und betrogen wurden, und welchen Problemen sie heute gegenüberstehen. Er hat einen Weg gefunden, indianische Spiritualität mit seinem christlichen Glauben zu verbinden. 

Es ist leicht, auf die Indianer, ihre Geschichte und ihre Bräuche herabzusehen, wenn man sich nicht eingehend damit beschäftigt hat, welche tückischen Wege die Weißen fanden, um ihre unersättliche Expansion nach Westen zu befriedigen, und wie Vertrag um Vertrag gebrochen wurde, bis für die Indianer nur noch winzige Reservate (schon dieses Wort...) übrig blieben. Wie mit der schwarzen Bevölkerung, wurde dafür gesorgt, dass diese Gruppen keinen Zugang zu Bildung und (finanziellen) Aufstiegsmöglichkeiten in dem neuen Land hatten, das sie nun umgab. Viele Reservate sind heute in desolatem Zustand, Alkoholismus ist ein großes Problem. Und die Privilegierten lehnen sich zurück und sagen "selber schuld"...

Ein Beispiel: viele Reservate überleben nur durch das Betreiben von Casinos, da diese oft auf dem Staatsgelände verboten sind, aber nicht in den Reservaten. Die Casinos werden größtenteils von Weißen erbaut und betrieben. Der Erlös der Casinos, so wurde von den Weißen festgelegt, wird gleichmäßig auf alle Indianer des Reservats verteilt. Das heißt aber, dass der einzelne Indianer mehr Geld bekommt, wenn weniger Einwohner auf der Liste stehen. Ein einfacher Weg, um Unfrieden zu stiften: das Bestreben wird genährt, möglichst wenige Einwohner in einem Reservat zu haben; irgendwann so wenige, dass das Reservat aufgelöst werden kann. Wer gegen diese und andere Praktiken protestiert, wird meist lächerlich gemacht oder als Unruhestifter defamiert. Fakt ist, dass die Indianer heute eine verschwindende Minderheit sind und sich die meisten Leute nicht für ihre Rechte interessieren. Oft lebt ihre Sprache nur in Orts- und Flurbezeichnungen weiter, gerade hier in Wisconsin ("Milwaukee", "Wauwatosa", "Waukesha", "Oshkosh", "Kenosha", "Winnebago" usw.). 

So war auch Kewaskum einst der Name eines indianischen Häuptlings, der wohl - ausnahmsweise - gute Beziehungen zu den Siedlern zu pflegen wusste. Was Landnahmen betrifft, so gibt es kein "Land ohne Volk" auf der Welt - nur Völker, die verdrängt und vergessen werden...

Und viele Staaten in Amerika, besonders die republikanisch dominierten, arbeiten weiter daran, die eigene Diversität und Geschichte möglichst zu verleugnen - zum Beispiel mit dem Verbannen von Büchern. Solche Bücher dürfen zwar weiter im privaten Gebrauch gelesen werden, aber nicht in Schulen oder öffentlichen Bibliotheken zugänglich sein. Viele dieser Bücher drehen sich um Rassismus oder die Erfahrungen von Ausgrenzungen, die viele aus der LGBT Gemeinschaft erfahren. Eines dieser Bücher ist "The Nickel Boys", mit dem wir uns im "Banned Book Club" diese Woche beschäftigten:

In dem Buch geht es um eine Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Jungen in Florida, wie sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in vielen amerikanischen Staaten existierten. Nach "Rassen" (schwarz und weiß) aufgeteilt, den Aufsehern (ihren Lüsten und ihrem Hass) ausgeliefert, oft ohne Verhandlung zu den abgelegen gebauten Schulen geschickt, wurde jedes Fehlverhalten mit brutalen Maßnahmen geahndet (Einsperren in abgedunkelte Zellen für mehrere Tage, Prügel, Folter mit Ledergürteln); wer versuchte, dem Gefängnis ohne Mauern zu entfliehen, wurde mit der Schrotflinte verfolgt. Nicht wenige überlebten diese Hölle nicht und wurden am Rande des Geländes verscharrt. Viele hatten keine Familie, die sich kümmerte, keine Stimme, die sich für sie hätte erheben können. Eine Gruppe von Archäologie-Studenten, die an einer der aufgegebenen Schulen die Gräber entdeckten, machten die Realität dieser "Schulen" publik. Inmitten dieser Realität versucht Elwood, der Protagonist, an den gewaltlosen Prinzipien Martin Luther Kings festzuhalten. Es ist eine Entscheidung, vor der wir alle stehen: Soll unser Leben ein Beispiel der Barmherzigkeit sein oder den Kreislauf der Gewalt weiterführen? Wie kann man in solch einer Situation überhaupt an Ideale glauben und an ihnen festhalten?

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Gerade komme ich von einer Beerdigung. Die Bestattungskultur hier in Amerika ist definitiv eine andere! Eric erklärte mir, dass die Menschen, die nicht eingeäschert werden, mit einer Balsamflüssigkeit regelrecht vollgepumpt werden (anstelle des Blutes), um ihre Körper möglichst lebensecht zu erhalten. Die Särge werden hermetisch verschlossen und in eine Art Betonkiste gesenkt. Eric findet dies persönlich ebenso absurd wie ich, als ich es hörte, doch offenbar gibt es eine großes Bestreben, den Körper möglichst lang original zu bewahren (wie bei den alten Pharaonen). Und dies ist seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) gängige Praxis! Im heutigen Fall war es jedoch einfach nur eine Urne. 

Bei Urnenbestattungen finden die Feiern oft lange nach dem Tod statt, bis zu einem halben Jahr. Die Urne kann in einen Friedhof eingesenkt werden (in einer separaten Zeremonie), oder privat behalten werden. Ehrengedächtnis und Totensonntag gibt es dagegen nicht. Vor einer Bestattung findet eine "Visitation" statt, eine Stunde, in der Angehörige sich an der aufgebahrten Leiche (offener Sarg) oder der Urne (meist mit Bildern aus den verschiedenen Lebensstationen des Verstorbenen umrahmt) verabschieden können.

Was ich sehr würdevoll fand, war die militärische Zeremonie, die auf den Gottesdienst folgte: Die Flagge, die zu einem Dreieck gefaltet auf dem Urnentisch stand, wurde von einer Soldatin mit ernster Miene aus der Kirche getragen. Draußen warteten einige Veteranen, die einige Salutschüsse abgaben. Ein Trompeter spielt ein kurzes Stück, das ihr vielleicht schonmal in einem Film gehört habt:

Daraufhin wurde die Flagge von zwei Soldaten entfaltet und dann erneut in ein Dreieck gefaltet, bevor ein höherer Offizier sie entgegennahm und feierlich dem nächsten Angehörigen (in diesem Fall der Sohn) übergeben wurde. Der Verstorbene verbrachte seinen Militärdienst übrigens auf einer Basis in Deutschland und war nicht an aktiven Kämpfen beteiligt - trotzdem hatte er offensichtlich Anspruch auf diese Ehrung.

Nun denn, soviel erstmal zu meinen aktuellen Eindrücken!

Take care, and see you next time!

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